Wie verhalte ich mich und was sind Verhaltensmuster von Demenzkranken?
Frau Leuenberger, wie soll man sich einem Menschen gegenüber verhalten, der dement ist?
Wenn Menschen mit Demenz frisch eine Diagnose haben, denken viele Angehörige, dass der Demenzkranke mit der Diagnose alle Fähigkeiten verloren hat. Dem ist aber nicht so. Häufig haben die Betroffenen ganze viele Fähigkeiten, die noch gut erhalten sind und es ist wichtig, dass Angehörigen das bewusst ist. Der Betroffene ist immer noch eine vollwertige Persönlichkeit, ein Mensch mit einem Erwachsenenempfinden, den man nicht plötzlich wie ein Kind behandeln darf. Eine an Demenz erkrankte Person kann, je nach Verlauf der Erkrankung, trotz der Diagnose noch ganz lange selber Entscheidungen treffen. Man sollte die Verantwortung in den Bereichen, in denen es noch gut funktioniert, den Menschen mit Demenz lassen und sie spüren lassen, dass sie gebraucht werden. Die Erfahrung zu machen, dass man gewisse Aufgaben noch selber erledigen kann, ist für ein gutes Selbstwertgefühl enorm wichtig.
Welche Tipps gibt es für den Umgang mit Demenzkranken?
Es ist wichtig den Spagat zwischen Fordern und Überfordern meistern zu können. Da ist bei den Angehörigen Geduld gefordert, mit sich selbst und den Betroffenen. Es ist oft schwierig herauszufinden, was das richtige Mass ist. Es ist zudem wichtig, den Alltag aktiv zu gestalten: z.B. mit den Betroffenen aus dem Haus zu gehen und soziale Kontakte zu pflegen. Es gibt aber auch Demenzkranke, die schnell überfordert sind, beispielsweise mit zu vielen Eindrücken die in der Öffentlichkeit auf sie einwirken. Erst kürzlich war eine Frau in der Beratung, welche erzählte, wie sie und ihr Ehemann früher viel auf Reisen waren und wie sie gerne Tagesausflüge mit dem Zug und dem Schiff unternommen hatten. In letzter Zeit musste sie feststellen, dass der Ehemann nach Tagesausflügen abends unruhig und zunehmend aggressiv wurde, weil ihm die Eindrücke einfach zu viel wurden. Sie musste einsehen, dass sie den Alltag mit ihrem Ehemann anders gestalten muss. Statt Tagesausflügen beschränkt sich die Aktivität nun auf Spaziergänge im Quartier. Als betreuende Angehörige muss man lernen heraus zu spüren, wann der Zeitpunkt gekommen ist, an welchem man die Aktivitäten anpassen muss.
Besonders schwierig ist es für die Angehörigen, wenn bestimmte Aktivitäten einen grossen Teil der Paarbeziehung ausgemacht haben. Sich von solchen Dingen zu verabschieden, ist sehr belastend für die Angehörigen und gehört zum Trauerprozess, den die Angehörigen über die Dauer der Erkrankung durchlaufen. Sich immer aufs Neue von gewohnten Dingen zu verabschieden und an andere Gegebenheiten anpassen zu müssen, sich Stück für Stück von einem geliebten Menschen verabschieden zu müssen, ist für viele Angehörige sehr belastend.
Betroffene können weiterhin viele Dinge selber machen. Bild: CDC - unsplash.com
Wie soll man sich verhalten, oder eben nicht verhalten?
Eine Herausforderung für viele Angehörigen ist, gerade zu Beginn der Krankheit, herauszufinden, welches Verhalten Symptom der Krankheit und welches zum Charakter oder zur Persönlichkeit des erkrankten Menschen gehört. Nehmen wir als Beispiel die Vergesslichkeit. Viele Angehörige können die Vergesslichkeit nicht als Symptom der Krankheit zuordnen, sondern sind unsicher, ob der Betroffene absichtlich 10x hintereinander das Gleiche fragt. Hier hilft es, wenn man den Angehörigen erklärt, dass das häufige Nachfragen zur Vergesslichkeit gehört, dass es nicht aus bösem Willen geschieht, sondern ein Symptom der Demenz ist. Es ist zudem wichtig, dass Angehörige wissen, dass die Betreuung eines an Demenz erkrankten Menschen ein Lernprozess ist, den sie durchlaufen. Es ist normal, dass man nicht immer die nötige Geduld aufbringt und gelassen reagieren kann. Man kann sich aber vielleicht für das nächste Mal vornehmen, auf eine andere Weise zu reagieren oder eine Angelegenheit anders anzugehen.
Wenn man z.B. mit der demenzkranken Person einen Termin beim Hausarzt oder beim Coiffeur hat, sollte man genügend Zeit einplanen, da Menschen mit Demenz einfach länger Zeit brauchen. Das Anziehen oder das Binden der Schuhe geht vielleicht länger, da diese Fähigkeiten im Verlauf der Krankheit verloren gehen. Gleichzeitig ist es aber wichtig, dass Betroffene solche Dinge noch möglichst lange selbst machen, und dass man eben dort als Angehöriger lernt, genügend Zeit einzuplanen. So gerät man selbst nicht unter Zeitdruck und der Stress überträgt sich nicht auf das Gegenüber. Menschen mit Demenz haben ein feines Sensorium für die zwischenmenschlichen Schwingungen. Diese werden sehr genau wahrgenommen und Betroffene sind schnell überfordert, wenn das Gegenüber ungeduldig wird.
Wie äussert sich Alzheimer im Verhalten?
Bei einer Demenzerkrankung gehen als erstes typischerweise die Alltagsfähigkeiten verloren, das Haushalten wird beispielsweise schwieriger - Dinge, die in den eigenen vier Wänden passieren. Es sind deshalb zuerst meist die Personen, die der betroffenen Person nahestehen, welchen Veränderungen auffallen. Viele Demenzkranke haben eine gute Fassade, gerade zu Beginn der Erkrankung, und sind nicht selten uneinsichtig. Sie sehen selber nicht ein, dass etwas nicht stimmt oder ahnen es vielleicht, wollen es aber nicht wahrhaben.
Oft merken deshalb Aussenstehende, wie der Hausarzt nicht, dass etwas nicht stimmt und die Angehörigen müssen manchmal richtiggehend dafür kämpfen, damit es zu einer Abklärung kommt. Kürzlich erzählte mir eine Tochter davon, dass sie schon lange praktisch 24 Stunden für die Mutter da sein muss. Die Mutter geht aber nach wie vor regelmässig im Dorf spazieren. Wenn die Tochter den Leuten im Dorf erzählt, dass sie mit der Betreuung der Mutter überlastet ist, zeigen sich die Leute erstaunt darüber, weil die Mutter auf den Spaziergängen so ist wie immer. Häufig verschwindet das Kurzzeitgedächtnis als erstes und das Langzeitgedächtnis bleibt. Gewisse Dinge lernt man bereits als Kind, zum Beispiel. dass man im Dorf alle Leute grüsst. Das Verhalten hat sich in das Langzeitgedächtnis eingeprägt. Auch die Gespräche beim Hausarzt verlaufen immer relativ gleich. Das sind eingespielte Dinge und Verhaltensweisen, die die Betroffenen gut meistern können, weil sie im Langzeitgedächtnis verfestigt sind. Aber wenn Menschen mit Demenz den neuen Kochherd bedienen müssen, kommen sie an ihre Grenzen. Und genau dort fallen den Angehörigen die Defizite auf.
Es ist wichtig, den Alltag aktiv zu gestalten. Bild: Hans Eiskonen - unsplash.com
Geht Ihnen das als aussenstehende Person manchmal auch so, dass Sie nicht auf Anhieb sagen können, wer betroffen ist?
Ich besuche jedes Jahr unsere Alzheimerferien, an denen Menschen mit Demenz mit einem gesunden Angehörigen teilnehmen. Ich kann dort tatsächlich oftmals nicht auf Anhieb ausmachen, welcher Teil eines Paares an Demenz erkrankt ist. Bei Menschen mit einer Demenz im fortgeschrittenen Stadium fällt die Erkrankung eher auf, weil diese Personen auch zunehmend körperlich eingeschränkt sind. Bei kurzen Kontakten und Smalltalk-Gesprächen bei Menschen im Anfangsstadium einer Demenz fällt die Erkrankung oftmals aber nicht auf. Ich bin selbst immer wieder beeindruckt, wie wenig man das als aussenstehende Person merkt.
Wie ist es mit aggressivem Verhalten?
Das ist sehr individuell. Je nach Demenzform, Charakter aber auch je nach Verhalten und Umgang der Angehörigen mit der Krankheit und der erkrankten Person treten Aggressionen früher, später oder gar nicht auf.
Was gibt es für weitere Verhaltensweisen bei Alzheimer oder Demenz, die vielleicht weniger bekannt sind?
Bei einigen Formen kann die Sprache verloren gehen, beispielsweise bei der vaskulären Demenz. Wenn bei einem Infarkt das Sprachzentrum im Gehirn betroffen ist, geht die Sprachfähigkeit, also die Fähigkeit zu Reden verloren. Dann ist eine andere Kommunikation gefordert und eine Verständigung sehr herausfordernd. Oder bei der Lewi-Body Demenz können beispielsweise Halluzinationen auftreten, also psychische Symptome, welche man als Laie nicht in erster Linie mit einer Demenz in Verbindung bringt.
Viele Symptome lassen sich mit recht einfachen Mitteln behandeln, beispielsweise mit der entsprechenden Gestaltung der Wohnung. Menschen mit Demenz können mit Fortschreiten der Krankheit das eigene Spiegelbild nicht mehr als solches erkennen. Wenn sie sich irgendwo im Fenster oder im Spiegel reflektieren, können sie zwar noch erkennen, dass da eine Person steht, erkennen die Reflektion aber nicht mehr als eigenes Spiegelbild. Dies kann dazu führen, dass die Betroffenen nicht mehr auf die Toilette wollen, wenn sie sich selber im Spiegelschrank sehen und denken, dass die Toilette vermeintlich bereits besetzt ist. Hier kann ein Tuch, welches man über den Spiegel hängt, Abhilfe schaffen.
Wenn sich jemand im Verlauf der Erkrankung anders verhält wie gewohnt, unruhig oder aggressiv wird, hilft es, wenn man im Blick behält, dass man mit einfachen Dingen, wie beispielsweise der demenzgerechten Anpassung der Einrichtung, die Situation verbessern kann.
Oftmals ist es ein Ausprobieren, von 10 Dingen klappen vielleicht nur 2. Hier lohnt es sich als Angehörige kreativ zu sein und verschiedene Massnahmen auszuprobieren, denn es gibt viele Möglichkeiten, wie man den Alltag vereinfachen kann.
Lesen Sie bald den letzten, dritten Teil des Interviews!